Die 90er-Jahre
mengeklebt. Manche sind öde und einsam.
Andere dagegen werden von Millionen be-
sucht. In „Escapology“ zum Beispiel, um ei-
nen ganz neuen Platz zu nennen, an dem
Entertainer-Star Robbie Williams sein See-
lenleben und seine Eskapaden wie auf
akustischen Transparenten aushängt, tum-
meln sich die Massen. Trotzdem ist, sobald
man selbst eintrifft, niemand da. Höchstens
ein, zwei Freunde oder der Partner, die ge-
meinsam mit einem vor den Lautsprechern
sitzen; diesseits der Grenze.
Trotzdem merkt man schnell, wer
schon dort gewesen ist. Die Leute er-
zählen davon, und die Statistik der
Medienbranche, die zur Kunst etwa
das gleiche Verhältnis hat wie die
Gynäkologie zur Liebe, zählt
in ihren Charts die Zahl der
gelösten Tickets. Einmal
eröffnete Plätze können
nie mehr geschlossen
werden. Einige ver-
waisen
bald
nach
dem
ersten
An-
sturm,
den
es
ff!
/■
womöglich
nie-
mals gab, und ge-
,
raten
in Verges-
senheit.
Manche
sind indes so po-
pulär wie der Petersplatz
in Rom und dienen gan-
zen Generationen als Auf-
enthalts- und Rückzugs-
ort. Wer hat noch nie mit den Beatles einen
Zug über die „Penny Lane“ gemacht oder
sich von Elton John auf die „Yellow Brick
Road“ entführen lassen? Erstere hat sogar
ein Vorbild in unserer Welt, letztere ist rein
fiktional. Doch das spielt in dem Land, das
ich meine, keine Rolle. Und was wären wir
etwa ohne die „Dark Side Of The Moon“,
die uns Pink Floyd einst erschloss? Wohin
sollten wir gehen ohne diesen Sammel-
punkt und Wegweiser im existenziellen
Grundrauschen?
Wie es in ihm aussieht, vermag niemand
genau zu sagen, denn das Land, von dem
hier die Rede ist, verachtet alles Konkrete
als trivial, ja primitiv. Dort wundert man
sich über flachköpfige PR-Manager,die uns
aus vordergründigen Interessen einzure-
den versuchen, dass Musik durch vorgege-
bene Bilder schöner wird. Sie wird ärmer.
Sie will nicht interpretiert, nicht veran-
schaulicht, sondern verstanden werden.
Denn Musik schafft innere Bilder und ruft
diese wieder ab. Sie kann Dinge heraufho-
len, von denen wir nicht wussten, dass sie in
uns sind. Schöne wie schreckliche, erhabe-
ne wie kitschige. Dann fängt man bei einem
elegischen Motiv aus Chet Bakers Trompete
vermeintlich grundlos zu heulen an und
weiß nicht warum. Möglicherweise wusste
Baker selbst nicht, was er spielte, und das
Land ging vielmehr durch ihn wie durch
ein Medium hindurch, als dass er sich selbst
seinen Platz gesucht hätte. Und deshalb
kennt jeder, der das Album gehört hat, die
dunkle Seite des Mondes. Wer schon öfter
da war, braucht nur den Albumtitel als
gleichsam magische Chiffre zugewor-
fen zu bekommen - und schon ist er
dort.
Das ist das Wesen unseres Landes,
dass es sich dort zurückzieht, wo es
verweltlicht werden soll und da am mei-
sten es selbst ist, wo es sein Reich unge-
stört manifestieren kann. Das hat es
mit dem verwandten Land der Litera-
tur gemeinsam, dessen
weite
Schwingen nur allzu off vom De-
finitionsgewicht der Bilder zu
Boden gedrückt werden. Wer
»
einmal den gleichnamigen Film
zu Heinrich Bölls Roman gese-
hen hat, für den sieht Clown
Hans Schnier künftig eben wie
der Schauspieler Helmut Griem
aus, um noch eins der positiveren
Beispiele zu nennen.
Wer nun meint, das Land, von
dem wir hier sprechen, sei bedroht, mag
sich beruhigen. Es besteht keine Gefahr.
Denn wir können es selbst retten. Jeder für
sich und alle gemeinsam. So wie Bastian
Balthasar Bux in Michael Endes „Unendli-
cher Geschichte“ der„Kindlichen Kaiserin“
nur einen neuen Namen zu geben braucht,
um „Phantasien“ neu zu erschaffen, so bau-
en wir an unserem Land mit jedem Stück
Musik, das wir hinter der Grenzlinie unse-
rer Lautsprecher sein Leben führen lassen.
Denn nicht weniger als das Leben selbst
ist sein Metier, freilich in einer ästhetischen,
geistigen Form. Und so schwer dies für
manchen unter uns auch zuzugeben sein
mag, gilt dies ohne Einschränkung auch für
die Plätze, die wir meiden, sei es das geistli-
che Konzert, eine Heino-Schnulze oder der
Heavy-Metal-Gig. Sie alle sind gleichwerti-
ge Bewohner des Landes hinter den Boxen.
Eltern und Kinder, Honoratioren und
Punks.
Leben heißt Veränderung, und so än-
dert sich die Musik nicht nur
im Stil, sondern jedes Stück
einzeln im Zuhörer. Goethe
hat noch gezetert, dass das
Abendland untergehe, wenn Beetho-
vens Musik populär würde. Heute gilt
sie als eine seiner Säulen,
und wir empfinden uns bei-
nahe als staatstragend, wenn
wir ihr lauschen. Und, wer
weiß: Vielleicht läuft irgend-
wann auf einem Empfang
der britischen Krone „God
Save The Queen“- in der
Version der Sex Pistols.
Musik überwindet eben
manches. Selbst der Tod hat
keine Macht über sie. So ist es nett, Fotos et-
wa von Nat „King“ Cole anzuschauen oder
Texte über ihn zu lesen. Doch wenn man
ihn an seinem zeitlosen Platz im magischen
Land besucht, dann zwinkert er lausbü-
bisch hinüber, erhebt seine geschmeidige,
dunkle Stimme und rät seiner Tochter Na-
talie mit zärtlicher Güte, die um die Ver-
gänglichkeit weiß: „Stay As Sweet As You
Are.“ Das ist so unmittelbar und echt. Nat
„King“ Cole tot? Lächerlich! Ich höre ihn
doch!
Gleichzeitig hebt Musik auch unsere eige-
ne Zeit auf. Jeder,der beim Wühlen im Plat-
tenschrank auf einen alten, lange vergesse-
nen Schatz gestoßen ist, kennt das Deja Vu
mit der persönlichen Vergangenheit. Wie in
einer Zeitmaschine wird man fast beliebig
weit zurückversetzt und findet sich plötz-
lich wie verwandelt, mit den alten Nöten,
Wünschen und Träumen, die für einen Mo-
ment aus einer längst dem inneren Zugriff
entschwunden geglaubten Biegung des nie-
mals innehaltenden Zeitflusses herüber-
blitzen.
Doch was ist mit den Welten anderer?
Auch sie spiegeln sich in Musik als Vexier-
bilder, die nichts weniger sind als die Rea-
lität dessen, der komponierte, aber parado-
xerweise sich in uns doch als Wahrheit ma-
nifestieren können. Wo war Gustav Holst,
als er „Die Planeten“ schrieb? Auf der Erde.
In welcher äußeren Verfassung befand sich
Claude Debussy beim Nachspüren des
„L‘Aprös-Midi D‘un Faune“? Wohl eher
konzentriert im Arbeitszimmer
als auf einer sizilianischen
Hochebene, bemüht, die
Jk
Stimmung von Mallarmes
gleichnamigem Gedicht
als Noten zu ei-
3/2003 STEREO 29
30 JAHRE STEREO
29